Bei mir wird man nicht belogen

Volker Ludwig verrät, warum seine “Linie 1” auch bei den Olympischen Spielen in Peking fährt, wie hartnäckiges Kaffeetrinken das “Schöne Neue Welt”-Musical ermöglicht hat und wem er 2008 ein musikalisches Denkmal setzen will.

Der Autor und Dramatiker Volker Ludwig leitet seit 1969 das Berliner GRIPS-Theater. Seine vor 20 Jahren geschriebene “Linie 1” gilt nach Brechts “Dreigroschenoper” als weltweit erfolgreichstes deutsches Theaterstück mit Musik. Auch Ludwigs andere Werke wie “Ab heute heißt Du Sara”, “Melodys Ring” oder “Baden gehen” stehen nicht nur in Berlin regelmäßig auf dem Spielplan. Sein neues Musical “Schöne Neue Welt” feiert am 2. November Premiere.

Als “Linie 1” 1985/86 entstand, gab es mit “Cats” und dem “Phantom der Oper” in Deutschland die ersten kommerziellen Großproduktionen. An Stadt- und Staatstheatern beschränkte man sich auf die Aufführung von Werken wie “My Fair Lady” oder “Kiss me, Kate”. Wie kamen Sie als Leiter eines Kinder- und Jugendtheaters auf die Idee, ein Musical zu schreiben?

“Linie 1” ist das Ergebnis einer Wette. Seit 1975 führte das GRIPS in regelmäßigen Abständen Jugendstücke auf, die von einer Rockband begleitet wurden. Als wir einmal eine Produktion mit Musik vom Band untermalten, rief das den Unmut der Musiker hervor. Zur Besänftigung wettete ich mit ihnen, dass ich es schaffen würde, ein ganzes Musical mit 20 Songs zu schreiben, in dem sie viel zu tun haben würden. Die meisten Geschichten waren schon da, bevor ich auf die Idee kam, sie in die U-Bahn zu stecken. Ich griff auf meinen Bestand an kleinen Geschichten zurück, die ich ursprünglich für andere Stücke verfasst hatte, die dort jedoch keine Verwendung gefunden haben. Als dann klar war, dass es in der U-Bahn spielt, kamen die Handlungsstränge mit Kontrolleuren und so weiter hinzu.

Warum ist “Linie 1” Ihrer Ansicht nach weltweit ein so großer Erfolg geworden?

Der spätere Erfolg von “Linie 1” war zunächst gar nicht abzusehen. Noch bei den Proben im Frühjahr 1986 stieß das Stück bei uns im Hause auf Skepsis. Unsere Schauspieler vermissten eine spannende Handlung, manchen war die Sache zu albern, anderen zu kitschig. Diese Art von Stück war damals neu und noch sehr gewöhnungsbedürftig. Letztendlich fasziniert “Linie 1” die Zuschauer weltweit, weil es gar kein spezifisch Berliner Stück ist, sondern eine Liebeserklärung an die Unterschichten einer Großstadt. Wir zeigen Typen und Schicksale, die man genauso in Melbourne oder Dublin finden kann. Die Zuschauer sagen mir immer wieder: “Die Typen gibt’s bei mir auch!”

“Linie 1” wird im Ausland auch in eigenständigen Versionen gezeigt. Welches ist Ihre liebste?

In Europa wird unsere “Linie 1” in der Regel einfach nachinszeniert. Von den fremdsprachigen Adaptionen ist die in Seoul gezeigte meine absolute Lieblingsversion. Der koreanische Songschreiber Kim Ming Gi hat irgendwann einmal ein Video von dem Stück im Goethe-Institut gesehen und war sofort davon fasziniert. Er hat Pointen und Slapstick richtig verstanden und das Stück auf ganz, ganz hohem Niveau adaptiert. Die Musik ist Note für Note unsere, die Charaktere sind allerdings typisch koreanisch. Dadurch ist es in Korea zu einem Kultmusical mit über dreitausend Vorstellungen geworden, von dem keiner weiß, dass es ursprünglich aus Deutschland kommt. Aufbauend auf seiner koreanischen Version soll Kim Ming Gi nun eine chinesische “Linie 1” für die Olympischen Spiele 2008 in Peking entwickeln.

Sehen Sie sich mit Ihren Stücken als einen Impulsgeber für die deutschsprachige Musical-Szene?

Gerade in Deutschland hat “Linie 1” dazu beigetragen, dass Stadt- und Staatstheater sich etwas dem so genannten “Boulevard” geöffnet haben und sich nun nicht mehr zu fein sind, gute Unterhaltung auf die Bühne zu bringen. Das hat sich so entwickelt. Ich habe selbst nicht gemerkt, was ich da angerichtet habe. Meine Wurzeln liegen beim politischen Kabarett und ich lege beim Schreiben viel Wert darauf, pointenreicher und realistischer als klassische Musicals zu sein. Bei mir wird man nicht belogen.

Am 2. November wird am GRIPS das Musical “Schöne Neue Welt” uraufgeführt. Wie sind Sie bei der Adaption des fast 75 Jahre alten “utopischen Romans” vorgegangen?

Aldous Huxley kritisiert in seinem 1932 verfassten Buch die gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit. Da ich der heutigen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will, musste ich für meine Version andere Ansatzpunkte finden. Mit satirischen Bezügen will ich beweisen, dass die Warnung vor einer seelenlosen, hedonistischen Konsumwelt überholt ist. Sie hat doch längst Einzug in unseren Alltag gehalten.

Welches waren für Sie die Hauptherausforderungen beim Schreiben?

Das war zum Einen die Aktualisierung der Romanvorlage, aber auch dessen Reduzierung auf das Wesentliche, damit das Stück nicht 15 Stunden dauert. Diese Arbeit ist viel mühsamer, als wenn ich etwas frei erfinde. Ich habe vieles völlig neu schreiben müssen. Dabei ist mir allerdings entgegengekommen, dass Aldous Huxley in den fünfziger Jahren eine Bühnenfassung von “Brave New World” verfasst hat, die allerdings nie aufgeführt worden ist. Das ist eine richtige “Comedy”, die vom Roman unter anderem in ihrem versöhnlichen Ende abweicht. Deswegen hatte ich eine totale Freiheit, alles neu zurecht zu basteln. Auch im Musical gibt es deswegen ein Happy-End für die beiden Hauptfiguren.

Welche Reaktionen hat Ihr neues Projekt bisher hervorgerufen?

Als bekannt wurde, dass wir diesen Stoff machen, haben mich Leute richtig empört angerufen und wollten wissen, woher wir die Rechte hätten. Des Rätsels Lösung: Der Komponist Achim Gieseler hat die inzwischen 95-jährige Witwe von Aldous Huxley in Kalifornien getroffen und mit ihr so lange Kaffee getrunken, bis er die Rechte für eine nicht-englischsprachige Bühnenversion bekommen hat. Er hat dann versucht, eine freie Produktion zustande zu bringen. Dies ist aber immer wieder aus finanziellen Gründen gescheitert. Letztendlich hätten wir das Musical schon vor sechs Jahren machen können. Ich habe ihn oft bei uns sitzen sehen, wusste aber von dem Projekt nichts. Den Kontakt zum GRIPS und zu mir hat letztendlich unser Bühnenbildner Matthias Fischer-Dieskau hergestellt. Interessant ist auch, dass nach der Uraufführung bei uns bereits Nachinszenierungen in Düsseldorf, Freiberg/Döbeln und Hannover angekündigt worden sind, bevor jemand eine Zeile gelesen oder eine Note von Achim Gieseler gehört hat.

Wo sehen Sie das GRIPS an seinem vierzigsten Geburtstag im Jahr 2012?

Leider kriselt es zurzeit etwas in unserer Hauptdomäne, dem Kinder- und Jugendtheater. Als völlig falsche Reaktion auf die Pisa-Studie heraufbeschworenen Bildungsmisere sind die Einnahmen in diesem Bereich im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent zurückgegangen. Deshalb brauchen wir schon aus Existenzgründen das zweite Standbein mit Musicalproduktionen. In den nächsten Jahren wird etwa die Hälfte aller Vorstellungen aus Produktionen im Abendprogramm bestehen.

Wie sehen Ihre Zukunftspläne in Sachen Musical aus?

Als nächstes möchte ich eine alte Lieblingsidee von mir realisieren. 2008 soll es ein Musical über Rosa Luxemburg geben, an dem ich gemeinsam mit Franziska Steiof schreiben will.

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