Frischer Musical-Wind in der Hauptstadt

Der Anfang liegt im Darm. Zumindest in der Biografie der Stammzellformation, die 2009 mit “Dr. Ich” beginnt. Das Erstlingswerk der jungen Berliner Musical-Company um die Urzellen Tom van Hasselt, Nini Stadlmann und Hendrik Weber spielte im Verdauungstrakt eines Hirnforschers und gab die Initialzündung für die Gründung einer Dreier-GbR, die sich das wirtschaftliche Risiko für die Produktion eigener Musicals teilt.

Doch wie entstand ihr ungewöhnlicher Name? „Nach der Premiere von “Dr. Ich” saßen wir völlig fertig in einem Café in Bern”, erzählt Nini Stadlmann im muz-Gespräch. Aus Scherz schlug Tom van Hasselt “Stammzellformation”, eine aus seinem Stück entlehnte Bezeichnung, für die Truppe vor. Auch wenn die ihm selbst zunächst gar nicht zusagte, überstimmten ihn seine beiden Mitstreiter. Seitdem heißt sowohl der harte Dreier-Kern, als auch die Company mit allen, die an einem Stück beteiligt sind, so.

Kreativ-Stammzelle ist Tom van Hasselt, der von Haus aus Kabarettist ist. “Ich hatte schon immer die Idee, ein Musical zu schreiben, das eine gewisse satirische Brechung hat”, erläutert er seine Entwicklung zum Musicalautor und –komponisten und den Weg zu “Dr. Ich”. Für eine Präsentation als Lesung suchte er Mitstreiter aus der ihm damals weitgehend fremden Musical-Szene. “Als eine der ersten habe ich Nini angerufen – wir kannten uns flüchtig.” Durch ihre Kontakte, Nini Stadlmann ist ausgebildete Musicalsängerin und Choreografin, kamen die Akteure für die Lesung zusammen. Hendrik Weber, von Haus aus Grafiker und Designer und bei der Stammzellformation hauptsächlich für Optik und Organisatorisches verantwortlich, stieß nach seinem Besuch bei der dritten Lesung von “Dr. Ich” dazu. „Das hat mich total gepackt und faszinierte mich: Ein Stück, das im Körper eines Menschen spielt! Hoffentlich wirkt es nicht zu peinlich?”, beschreibt Hendrik seine ersten Emotionen vor der Präsentation damals. Die Bedenken waren schnell beiseite gewischt, als er bemerkte, dass sich andere Zuschauer danach angeregt darüber unterhielten und sich mit dem Stück auseinandersetzten. Dass Inhalte verarbeitet wurden, die nicht kompatibel mit Musical im klassischen Sinne waren, war letztendlich Motivation für seinen Einstieg.

Auf ihrer Homepage verkündet die Stammzellformation selbstbewusst: “Musical muss neu geschrieben werden.” Nini Stadlmann erläutert das so: “Musical ist Tanzen, Singen und Schauspielern. Wir stehen dazu, doch wir machen es halt anders.” Der Normalverbraucher in Deutschland assoziiere mit Musical “immer diese riesen-fette Stücke: kurzer Inhalt, kurze Story und die großen Balladen”. Nach Tom van Hasselts Ansicht funktioniert diese eher einseitig kommerziell motivierte Sichtweise in Amerika wegen eines anderen Verhältnisses zwischen Kunst und Kommerz. “Da ist es normal, dass man damit Geld verdient, aber auch einen Flop landet”, In Deutschland wirke vieles wie ein liebloser Import, bei dem “alles ausgeschlachtet wird, um Kohle zu machen”. Die großen Veranstalter seien hier sicherheitsorientierter, würden keine Risiken eingehen und verliehen Musical “den Anstrich des gleich riesigen Theaters mit den riesigen Effekten”. Die von Tom van Hasselt getexteten und komponierten Stücke der Stammzellformation verstehen sich als Gegenentwurf: Sie experimentieren mit dem Genre und präsentieren fast ohne Bühnenbild, Kostüm und Maske neue, schräge Inhalte, in denen nach längeren Sprechszenen “Gesang und Tanz nötig sein müssen”. Nini Stadlmann vergleicht den Stil mit den Stücken von Peter Lund, versteht die Stammzellformation allerdings nicht als Konkurrenz zur Neuköllner Oper, an der die meisten seiner Musicals uraufgeführt werden. Ganz im Gegenteil. Die Bühne helfe, wo wie nur könne und stelle zum Beispiel ihre Räume im Westteil der Stadt zur Verfügung, wenn einmal ein Tanztraining ansteht.

Die eigene Bühnen-Heimat haben die Stammzeller im Ostteil der Stadt, mitten im Prenzlauer Berg, gefunden. Nach der ersten Aufführungsserie von “Dr. Ich” zogen sie im Dezember 2009 von der schweizerischen in die deutsche Hauptstadt um und mieteten sich in das Maschinenhaus der Kulturfabrik ein. Hier zeigen sie zunächst bis zum Jahresende 2010 jeweils dienstags drei neue Stücke: Das Impro-Musical “Echt Zeit Story”, “Mama Macchiato”, eine satirische Hommage an den hippen Szene-Bezirk vor der Tür des Theaters, und das fast schon biografisch anmutende “Drei”. In diesem Stück träumen die beiden Künstler Nina und Tim von ihrer eigenen Musicalbühne und suchen nach Finanzierungswegen. Durch einen Zufall gerät Tim an die goldene Kreditkarte des zwielichtigen Chefs eines Musical-Konzerns…
Die könnte die Stammzellformation auch im realen Leben gut gebrauchen, denn große Sponsoren halten sich derzeit noch zurück. Hendrik Weber begründet das auch mit den ungewöhnlichen Stoffen der Formation.
Somit hilft zunächst ein reger Publikumszuspruch und mittelfristig die die Hoffnung auf eine aktuell eher unrealistische finanzielle Unterstützung durch den Berliner Senat.
Doch zunächst einmal wollen die Stammzeller auch ohne großen finanziellen Rückhalt mit ihren Musicals weiter Staub in der Szene aufwirbeln.

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