Ein Zwischentief

Die Vereingten Bühnen Wien (VBW) haben sich mit ihrem Spielplan weit von den Wünschen der Musicalszene entfernt – und sind so erfolgreich wie noch nie. Der Geschmack vieler Musicalfreunde ist derzeit nicht Mainstream. Kein Grund zur Panik, meint muz-Redakteur Robin Jantos.

Wien? So mancher Musicalfreund wird sagen: “Ist das nicht die Stadt, in der man früher regelmäßig aufregende Musicals sehen konnte? Bin ich schon ein paar Jahre nicht mehr gewesen.” Denn für “Sister Act” oder “Ich war noch niemals in New York” lohnt es sich wohl kaum, eine längere Reise auf sich zu nehmen.

Sind die VBW also auf dem falschen Weg? Muss man der zum Jahresende 2011 scheidenden Intendantin Kathrin Zechner eine verfehlte Spielplanpolitik vorwerfen? Das wäre unfair – und falsch. Denn der Schwenk hin zum seichten, aber massenkompatiblen Entertainment war alternativlos. Hätte Zechner ihn 2009 nicht vollzogen, würde wohl jetzt die Wiener Musicalsparte an sich auf der Kippe stehen.

Es war schon eine eigenwillige Dramaturgie, damals im Frühjahr 2009. Erst wurde Zechners Vertrag verlängert und dieser Schritt mit dem künstlerischen Erfolg von “Frühlings Erwachen” und “The Producers” begründet. Nur wenigen Wochen später wurde dann bekannt, dass die VBW in massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken – nicht zuletzt wegen der für Wiener Verhältnisse miserablen Auslastung dieser Produktionen. “Rudolf”, der bisher letzte Versuch der VBW, eine große Eigenproduktion zu stemmen, war zu diesem Zeitpunkt gerade angelaufen. Auch diese Show blieb weit hinter den Erwartungen zurück.

Zechner und ihr Management taten das einzig Richtige: In dieser schwierigen Phase in den großen Spielstätten auf Nummer sicher zu gehen. Mit der Wiederauflage von “Tanz der Vampire” und den seichteren Shows “Ich war noch niemals in New York” und “Sister Act” setzte sie auf Erprobtes, mit dem die Masse etwas anfangen kann. Das Ergebnis: 2010 vermeldeten die VBW eine Rekordauslastung, für 2011 sieht es ähnlich positiv aus.

Auf der Strecke blieb das Stammpublikum. Jene Gruppe, die vor 20 Jahren mit “Cats”, “Starlight” und dem “Phantom” auf das Genre Musical aufmerksam geworden und in den neunziger Jahren mit seinen großen Dramen dabeigeblieben ist: “Elisabeth”, “Les Misérables”, “Miss Saigon”, “Sunset”, “Jekyll”, sicher auch “Tanz der Vampire”. Aus dieser Gruppe dürfte sich ein Großteil derjenigen rekrutieren, die heute in der Musicalbranche arbeiten, Musicalmagazine und Portale wie die Musicalzentrale lesen und die regelmäßig für interessante Musicalproduktionen quer durch die Lande reisen.

Die großen Musicalveranstalter haben gelernt, dass man auch ganz gut ohne diese Gruppe auskommen kann. Nicht nur in Wien, sondern auch in Deutschland, wo die Stage Entertainment (SE) auf Seichtes und auf Eventshows setzt – das gerade gestartete Rebecca in Stuttgart ist als löbliche Ausnahme, aber wohl auch als vorerst letzte Chance für ein Musicaldrama im Ensuiteformat zu nennen.

Soll man über diesen Trend schimpfen? Grund zur Panik besteht nicht. Denn Musical findet nicht nur dort statt, wo die Tickets 100 Euro kosten. Die Stadttheater greifen aktuell das Ensuite-Repertoire vergangener Jahre auf. “Jekyll” und “Les Misérables” gab es schon vielerorts zu sehen, “Aida”, “Miss Saigon”, “Titanic” und “Sunset” sind ebenfalls angelaufen, mittelfristig werden wohl auch “Wicked”, “Elisabeth” und die “Vampire” diesen Weg gehen.

Es läuft also. Erstmal. Aber auf lange Sicht müssen natürlich neue, große Stücke her. Und da sollte man den großen Veranstaltern VBW, SE und Mehr! Entertainment gegenüber nicht unfair sein. Sie haben es in den vergangenen Jahren immer wieder versucht. Neben etlichen deutschsprachigen Erstaufführungen stehen auch etwa “Dirty Dancing”, “Der Schuh des Manitu”, “Hinterm Horizont”, “Rudolf” und “Kein Pardon” auf der Liste der Neuproduktionen – alles Stoffe mit dem Potenzial, die Herzen vieler Menschen zu erreichen und mehr zu sein als Eventtheater.

Die Eigenentwicklungen haben einen guten Grund. Auf dem internationalen Markt gibt es kaum etwas, das sich für einen Import eignet. Die großen Broadway- und West-End-Erfolge der vergangenen Jahre – etwa “Wicked”, “Billy Elliot” und “Book of Mormon” – sind stark regional geprägt und werden hier nicht so einfach verstanden. Ebenso die großen Neuproduktionen in den Niederlanden.

Aber trotz aller Bemühungen: Die Herzen der Musicalszene haben die neuen Shows kaum erreicht. “Rebecca” ist auch hier die rühmliche Ausnahme. Ob “Rocky” 2012 in Hamburg mehr bietet als Eventtheater, muss man abwarten.

Die Gründe, warum die genannten Shows keine Musicalbegeisterung entfachen, sind unterschiedlich. Teils handwerkliche Schwächen, teils aber auch einfach die Tatsache, dass der Geschmack der Musicalbegeisterten derzeit kein Mainstream ist.

Die Hoffnung ist berechtigt, dass es sich dabei nur um ein Zwischentief handelt. Die Musicalgeschichte zeigt, dass Flops nun einmal vorkommen und sich auch mal ballen können. Das ist noch nicht das Ende der Kunstform Musical. Zudem wandelt sich der Massengeschmack permanent (Stichwort Zeitgeist). Und nicht zuletzt können es sich die großen Veranstalter dauerhaft gar nicht leisten, das jüngere Klientel zu verprellen. Denn wenn im Publikum der Nachwuchs fehlt, dann fehlen den Ensuitehäusern mittelfristig auch geeignete Bewerber für Positionen im künstlerischen Bereich und im Management.

Eine Zeitlang kann man ganz gut ohne das Musicalstammpublikum auskommen – dauerhaft nicht. Hoffen wir einfach, dass Zechners Nachfolger und die Chefs der anderen großen Veranstalter sich dessen bewusst sind. Dann besteht kein Grund zur Panik. Und bald mal wieder ein Anlass, ins schöne Wien zu fahren.

Overlay